Der erste Sozialbericht des Kantons Bern will ein ganzheitliches Bild des Themas Armut, Existenzsicherung und Sozialhilfe im Kanton Bern vermitteln und einen Beitrag für eine sachliche Diskussion dieser Themen leisten. Dabei geht der Sozialbericht neue Wege, indem er nicht nur der Wissenschaft, sondern in einem eigenen Band auch von Armut betroffenen Menschen eine Stimme gibt.
Unhaltbare Zustände
Der erste Band des Sozialberichts enthält die wissenschaftliche Analyse der wirtschaftlichen Situation der Berner Kantonsbevölkerung. Als primäre Datenquellen dienten die Schweizerische Sozialhilfestatistik des Bundesamtes für Statistik und– in dieser Art erstmalig– die Staatssteuerdaten. Die umfassenden Daten zeigen, dass rund sieben Prozent der Berner Haushalte als arm, weitere fünf Prozent als armutsgefährdet bezeichnet werden müssen. Im Kanton Bern gibt esüber 50'000 arme oder armutsgefährdete Haushalte, in denen gut 90'000 Personen leben, die auf Bedarfsleistungen angewiesen sind. Darunter sindüber
20'000 Kinder.
Regierungsrat Philippe Perrenoud hat diese Umstände als unhaltbar bezeichnet. Der Kanton Bern braucht deshalb eine langfristige Strategie zur nachhaltigen Reduktion der Armut. In einer ersten Phase will die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) den Sozialbericht in derÖffentlichkeit und in den interessierten sozialpolitischen Kreisen breit diskutieren lassen. Anschliessend werden entsprechende Massnahmen erarbeitet. Ziel ist es, innert 10 Jahren die Armut im Kanton Bern zu halbieren.
Armutsrisiko ist nicht in allen Lebensphasen gleich ausgeprägt
- Kinder/Familie: Das grösste Armutsrisiko tragen die Jüngsten: Jedes zehnte Kleinkind zwischen 0 und 5 Jahren beziehtüber seine Eltern Leistungen der Sozialhilfe, während die durchschnittliche Sozialhilfequote bei 4,3 Prozent liegt. Gemessen an allen Sozialhilfebeziehenden machen Kinder von 0 bis 15 Jahren 30 Prozent aller Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger im Kanton Bern aus. Im Kanton Bern ist jeder vierte Alleinerziehendenhaushalt auf die Sozialhilfe angewiesen. Dies unter anderem, weil die Alimentenzahlungen nicht einmal die Hälfte der Haushaltseinkommen von Alleinerziehenden abdecken.
- Jugendliche und junge Erwachsene: Jugendliche und Erwachsene zwischen 16 und 25 Jahren weisen eineüberdurchschnittliche Sozialhilfequote von 6 Prozent auf. Dabei haben Jugendliche und junge Erwachsene mit ausländischer Nationalität ein deutlich höheres Armutsrisiko (Sozialhilfequote von 15%) als Schweizer Jugendliche (Sozialhilfequote von 4,5%). Zwei wesentliche Gründe für dasüberdurchschnittliche Armutsrisiko von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind die mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt und Leistungslücken des Sozialversicherungssystems.
- Personen im erwerbsfähigen Alter:Im Kanton Bern ist jeder zwanzigste Haushalt ein Working Poor-Haushalt. Das heisst, dass das Einkommen trotz Vollzeitstelle nicht reicht, um die Existenz des Haushalts zu sichern.
- Eine weitere wichtige Einkommensquelle für Personen im erwerbsfähigen Alter sind Leistungen der Sozialversicherungen: 8 Prozent der Haushalte mit einem Haushaltsvorstand im Erwerbsalter beziehen Erwerbsersatzleistungen. Weitere 16 Prozent beziehen bereits im Erwerbsalter Renteneinkommen. Trotz Leistungen der Sozialversicherungen sind immer noch 11,3 Prozent der Haushalte arm oder armutsgefährdet und auf kantonale Sozialleistungen oder private Unterstützung angewiesen.
- Senioren:Trotz ausgebautem Rentensystem der ersten und zweiten Säule verfügen immer noch 13 Prozent der Haushalte mit einem Haushaltsvorstand im AHV-Rentenalterüber ein Haushaltseinkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze und sind auf bedarfsabhängige Leistungen angewiesen. Die Ergänzungsleistungen der AHV und der IV haben für die Existenzsicherung von Seniorenhaushalten eine zentrale Bedeutung.
Armutsbetroffene Menschen erhalten eine Stimme
Der zweite Band des Berner Sozialberichts ist den Menschen gewidmet, die von der Armut direkt betroffen sind. In längeren Interviews haben armutsbetroffene Personen eine Plattform gefunden, Aspekte ihrer Lebensgeschichte zu beleuchten, ihre aktuelle Lebenssituation offen zu schildern, ihreÄngste, Enttäuschungen und Hoffnungen frei zu artikulieren. Damit wird Armut fassbar, erhält ein Gesicht oder zumindest eine Stimme. Am 1. Dezember 2008 hat der Gesundheits- und Fürsorgedirektor, Philippe Perrenoud, die interviewten Personen im Rathaus zu einem längeren Gespräch empfangen. Es war der erste Schritt zu einem Dialog zwischen zwei Welten, dem in Zukunft mehr Bedeutung zugemessen wird.
Wegen der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Sozialen Sicherheit will die Gesundheits- und Fürsorgedirektion die Sozialberichterstattung als permanentes sozialpolitisches Planungsinstrument etablieren. Deshalb ist bereits der 2. Sozialbericht geplant. Dieser soll 2010, im EU-Jahr der Armut und der sozialen Ausgrenzung, erscheinen.
Sozialbericht 2008